Lektion 4: Was ist Gluten und wovon hängt seine Qualität ab?

Lektion 4: Was ist Gluten und wovon hängt seine Qualität ab?

Weizenproteine lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen:

  • Nicht-Glutenproteine, die etwa 15 bis 20 % des Gesamtproteingehalts in Weizenkörnern ausmachen.
  • Glutenproteine, die etwa 80 bis 85 % des Gesamtproteingehalts in Weizenkörnern ausmachen.

Die Nicht-Glutenproteine im Weizen sind Funktionsproteine. Funktionsproteine sind beispielsweise Enzyme und Transportproteine. Diese Proteine spielen eine wichtige Rolle in der Regulation des Stoffwechsels eines jeden Organismus. Von besonderer Bedeutung für das Brotbacken sind die mehleigenen Enzyme, auf die ich in einer späteren Lektion noch genauer eingehen werde.

Der Fokus in dieser Lektion liegt auf den Glutenproteinen. Die Glutenproteine sind Speicherproteine. Speicherproteine dienen als Nahrungsreserve für das keimende Getreide. Glutenproteine können in zwei Kategorien unterteilt werden:

  • Gliadine
  • Glutenine

Die Glutenine sind in der Lage, sich im Brotteig zu einem dreidimensionalen Netzwerk zu vernetzen. Die Gliadine wiederum sind Monomere. Sie können sich nicht untereinander vernetzen. Dennoch spielen auch die Gliadine eine entscheidende Rolle im Glutennetzwerk, denn sie können an das Gluteninnetzwerk binden und so das Netzwerk unterbrechen. Gliadine schwächen das Netzwerk an Gluteninen.

Brotteig – ein viskoelastisches Material

Glutenine und Gliadine sind Gegenspieler im Brotteig. Die Glutenine sind verantwortlich für die Elastizität des Teiges, wohingegen die Gliadine für die Plastizität des Teiges verantwortlich sind. Um dieses Konzept zu durchdringen, ist es wichtig, dass wir uns vor Augen führen, in welchem Aggregatzustand Brotteig eigentlich vorliegt. Im Chemieunterricht hat jeder von uns wahrscheinlich als Erstes gelernt, dass sich die Materie in drei Aggregatzustände unterteilen lässt: fest, flüssig und gasförmig. Diese Einteilung hilft uns aber nicht weiter, wenn wir den Aggregatzustand von Brotteig beschreiben wollen. Brotteig ist weder ein idealer Feststoff, noch ist er eine ideale Flüssigkeit. Brotteig ist eine Mischung aus Feststoff und Flüssigkeit.

Brotteig

Im Fachjargon wird der Brotteig als weiche Materie, auf Englisch: soft matter, klassifiziert. Weiche Materie zeichnet sich durch ein viskoelastisches Verhalten aus. Viskoelastische Stoffe weisen sowohl Merkmale von Festkörpern als auch von Flüssigkeiten auf. Sie setzen sich zusammen aus einem elastischem und einem viskosen Anteil.

Elastisches Verhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Materie, wenn sie unterhalb ihrer Elastizitätsgrenze verformt wird, wieder in ihren Ausgangszustand zurückkehrt. Viskoses Verhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Materie sich unter der Einwirkung einer Spannung irreversibel und unbegrenzt verformt. Die Materie kehrt nicht in ihren Ausgangszustand zurück, wenn die einwirkende Spannung eingestellt wird.

Elementar für das Verständnis der Funktion von Gluteninen und Gliadinen im Brotteig ist es, die Definitionen von Elastizität und Plastizität verinnerlicht zu haben, da Brotteig sowohl elastisches als auch plastisches Verhalten zeigt.

  • Elastizität: die Eigenschaft eines festen Körpers, seine Form vorübergehend unter Einwirkung einer Spannung zu ändern und nach deren Wegfall wieder seine ursprüngliche Form anzunehmen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind eine Metallfeder oder ein Gummiband, das, nachdem es in die Länge gezogen wurde, wieder vollständig in seinen Ausgangszustand zurückkehrt. Die Glutenine sind verantwortlich für den elastischen Anteil im Brotteig.

Kaugummi

  • Plastizität: die Fähigkeit eines festen Körpers, sich nach dem Überschreiten seiner Elastizitätsgrenze irreversible zu verformen und diese Form dauerhaft beizubehalten. Oberhalb der Elastizitätsgrenze bricht der Körper nicht sofort auseinander, sondern beginnt zu fließen. Wird beispielsweise ein Gummiband überspannt, so reißt es nicht direkt ab, sondern leiert aus und verbleibt in diesem Zustand. Ein bekanntes plastisches Material ist Kaugummi. Kaugummi lässt sich extrem weit auseinanderziehen, ohne das er auseinanderreißt oder sich wieder zu seiner Ursprungsform zusammenzieht. Die Deformation des Kaugummis bleibt dauerhaft bestehen. Stoffe, die ein festes Material plastischer machen, werden Weichmacher genannt. Gliadine sind ein Weichmacher des Glutennetzwerks.

Unterschiede in der Glutenqualität verschiedener Weizenarten

Entscheidend für die Backeigenschaften von Weizenmehl ist das Verhältnis von Gliadinen zu Gluteninen im Teig. In diesem Punkt unterscheiden sich die verschiedenen Weizenarten ganz erheblich voneinander. Je kleiner das Verhältnis von Gliadinen zu Gluteninen, desto besser die Glutenqualität.

WeizenartVerhältnis von Gliadinen zu Gluteninen
Weichweizen (Triticum aestivum)0,75-2,5 zu 1
Dinkel (Triticum aestivum subsp. spelta)3 zu 1
Hartweizen (Triticum durum)4 zu 1
Emmer (Triticum dicoccum)4,5 zu 1
Einkorn (Triticum monococcum)6 zu 1

Betrachtet man die obere Tabelle, so wird schnell klar, warum Weichweizen (der klassische Brotweizen) und Dinkel die bevorzugten Weizenarten zum Brotbacken sind. Der Überschuss an Gliadinen ist sowohl im Weizen- als auch im Dinkelteig deutlich geringer als im Emmer- oder Einkornteig. In besonders backstarken Weizenmehlen ist das Verhältnis von Gliadinen zu Gluteninen nahezu ausgeglichen.

Teig dünn ausrollen

Jeder, der schonmal mit Dinkelmehl gearbeitet hat, weiß, dass Dinkelteig sich leichter auseinanderziehen und dünn ausrollen lässt als Weizenteig. Dinkelteig ist plastischer als Weizenteig dank des höheren Anteils an Gliadinen, die als Weichmacher fungieren. Weichweizenteig hingegen ist ausgesprochen elastisch. Einen Weichweizenteig dünn auszurollen erfordert einiges an Muskelkraft und Geduld, da der Teig immer wieder zurück federt. Dafür haben Weichweizenteige den Vorteil, dass sie äußerst formstabil sind. Brotlaibe aus Weizenmehl sind sehr beständig und können problemlos ohne Form gebacken werden. Emmer- und Einkornbrote hingegen werden oftmals in Brotformen gebacken, da die Teige dazu tendieren, in die Breite zu laufen und so aus dem runden Bauernlaib schnell mal ein Fladenbrot wird.

Ideal für Strudelteig sind Emmer- und Einkornteige trotz ihrer Plastizität aber nicht. Bei einem hohen Gliadinüberschuss ist das Glutennetzwerk stark geschwächt, da die Gliadine es den Gluteninen sehr schwer machen, sich untereinander zu vernetzen. Das Resultat ist ein Teig, der sehr schnell reißt, wenn er auseinandergezogen wird. Für den idealen Strudelteig, der sich ohne zu reißen hauchdünn ausziehen lässt, kommt daher ein anderer Weichmacher zum Einsatz: Öl. Da Weichweizenmehl besonders reich an Gluteninen ist, reißt der Strudelteig beim Auseinanderziehen nicht.

Unterschiede in der Gluteninqualität

Die Glutenine sind eine heterogene Mischung aus Proteinen. Grob lassen sie sich unterteilen in:

  • Hochmolekulare Glutenine (high molecular weight glutenins)
  • Niedermolekulare Glutenine (low molecular weight glutenins)

Das Gluteninnetzwerk in Weizenteigen ist eine Mischung aus hoch- und niedermolekularen Gluteninen, die miteinander verknüpft sind. Je besser das Gluteninnetzwerk untereinander vernetzt ist, desto besser die Glutenqualität. Je weniger freie Glutenine sich im Brotteig befinden, die nicht mit dem Gluteninnetzwerk verknüpft sind, desto besser die Backeigenschaften eines Teiges.

Weizenmehl von ausgezeichneter Qualität weist einen hohen Anteil hochmolekularer Glutenine und einen geringen Anteil niedermolekularer Glutenine auf. Weniger hochmolekulare Glutenine vernetzen sich besser und einfacher untereinander als viele niedermolekulare Glutenine. Eine kleine Analogie zum besseren Verständnis: Eine Tasse, die in zwei Teile auseinandergebrochen ist, lässt sich einfacher zusammenkleben als eine Tasse, die in Hunderte Splitter zerfallen ist. Die zersplitterte Tasse lässt sich womöglich überhaupt nicht komplett rekonstruieren. So oder so ähnlich kann man sich das auch mit den hoch- und niedermolekularen Gluteninen vorstellen, die während des Knetvorgangs aus Einzelteilen zu einem kontinuierlichen Netzwerk zusammengefügt werden. Bei vielen winzigen Einzelteilen schaffen es weniger Teile, sich dem Glutennetzwerk anzuschließen als bei wenigen großen Teilen, die leichter zusammenzusetzen sind.

Wie sind die Glutenproteine miteinander verknüpft?

Der Grundbaustein der Proteine sind Aminosäuren. Die Aminosäuren sind zu einer langen Kette verknüpft, die zu einer komplexen dreidimensionalen Struktur gefaltet ist. Eine der 20 proteinogenen Aminosäuren ist das schwefelhaltige Cystein. Cystein besitzt eine freie Sulfhydrylgruppe, an der es sich mit anderen Cysteineinheiten über eine Disulfidbrücke verknüpfen kann. Disulfidbrücken sind kovalente Bindungen. Kovalente Bindungen sind die stärksten chemischen Bindungen und nur unter erheblichem Energieaufwand wieder brechbar.

Schematische Darstellung von Proteinketten, die über Disulfidbrücken miteinander verknüpft sind.

Wenn wir Brotteig kneten, so verknüpfen wir die Cysteineinheiten der Glutenproteine untereinander. Mit zunehmender Knetzeit bilden sich immer mehr Disulfidbrücken zwischen den Glutenproteinen aus. Der Teig wird fester. Beim Kneten formen wir nicht nur neue Bindungen, sondern brechen gleichzeitig auch bestehende Bindungen wieder auf, die sich dann an anderer Stelle neu ausbilden. Irgendwann erreichen wir den Punkt, an dem die Glutenproteine optimal miteinander vernetzt sind und keine neuen Bindungen mehr möglich sind. Wird der Teig an diesem Punkt weitergeknetet, so brechen wir Bindungen ohne neue zu formen und zerstückeln das gut vernetzte Glutennetzwerk in seine Einzelteile. Der Teig wird weich und klebrig. Er ist überknetet und ergibt kein gutes Brot mehr. Überkneteter Teig lässt sich nicht mehr retten und gehört in die Tonne.

Neben den Disulfidbrücken spielen Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Glutenproteinen eine untergeordnete Rolle als strukturgebendes Element. Wasserstoffbrücken sind nicht-kovalente Bindungen und deutlich schwächer als Disulfidbrücken. Dennoch helfen Wasserstoffbrücken dabei, den Teig zu stabilisieren. Wasserstoffbrückenbindungen sind thermolabil und bilden sich bevorzugt bei geringen Temperaturen aus. Um sich den stabilisierenden Effekt der Wasserstoffbrückenbindungen optimal zunutze zu machen, sollte man Brotteig idealerweise bei Temperaturen im Bereich von 15 bis 20 °C kneten. Üblich sind Teigtemperaturen im Bereich von 20 bis 35 °C nach dem Kneten. Den Teig kalt zu verkneten bringt Vorteile mit sich, ist aber optional und nicht der Standard.

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